Das Frühmittelalterliche Gräberfeld von Boilstädt
Dr. Christian Tannhäuser 04.11.2017 (Leiter der Ausgrabungen)
Das Gothaer Land mit seinen Böden hervorragender landwirtschaftlicher Güte und den günstigen klimatischen Bedingungen war bereits seit der Jungsteinzeit ein begehrtes Siedlungsgebiet. Hier kreuzten sich Verkehrswege, die, wie die via regia von Ost nach West, oder die Passstraße über den Oberhofer Sattel von Süd nach Nord verliefen. Auf diesen Routen gelangten kulturelle Einflüsse aus verschiedenen Regionen nach Mitteldeutschland, die ihren Niederschlag in den archäologischen Hinterlassenschaften fanden.
Durch das Zusammenspiel der siedlungsgünstigen Faktoren wurden einzelne Plätze im Laufe der Zeit immer wieder besiedelt. Diese „Siedlungszwangspunkte“ machen das Gothaer Land zu einer der reichhaltigsten archäologischen Landschaften.
Beim Bau der Ortsumfahrung Gotha-Sundhausen im Jahr 2013 wurde, unweit des Gothaer Ortsteils Boilstädt, ein Bestattungsplatz entdeckt, der während unterschiedlicher Epochen über einen Zeitraum von fast 3000 Jahren hinweg belegt wurde. Die Fundstelle liegt am nordwestlichen Hang einer seichten Erhebung, dem Hammelhög. Das Gelände fällt in nördliche und östliche Richtung ab.
Auf einer Fläche von ca. 0,8 ha wurde, im Zuge der die Baumaßnahme begleitenden Ausgrabungsarbeiten, eine Gruppe von sechs Gräbern der Schnurbandkeramik, ein Grabhügel der späten Bronzezeit sowie 44 Grablegen der späten Merowingerzeit Gräber freigelegt. Während im Osten und Westen die Grenzen des Bestattungsplatzes erfasst wurden, erstreckt er sich im Süden und Norden über den Rand des Baufeldes hinaus. Dies belegen auch die Ergebnisse geophysikalischer Untersuchungen, die vor allem in dem nördlich an die neue Straße angrenzenden Areal eine hohe Dichte noch im Boden erhaltener Strukturen zeigte.
Die 44 merowingerzeiltlichen Gräber gelangten zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert in die Erde, eine Zeit, die in Europa und damit auch in Mitteldeutschland, tiefgreifende Veränderungen mit sich brachte. Die großen Reiche im heutigen Spanien, Italien, Frankreich und Deutschland konsolidierten sich und rangen miteinander um Territorien und Machtansprüche. Die neue Religion des Christentums verbreitete sich und verdrängte zunehmend die heidnischen Glaubensvorstellungen.
531 wurde das Königreich der Thüringer, dessen Zentrum im Thüringer Becken zwischen Thüringer Wald, Harz, Saale und Unstrut lag, von den Franken erobert und damit Teil des ostfränkischen Reiches. Da die Thüringer selbst keine schriftlichen Überlieferungen hinterließen, ist über ihre Geschichte nur wenig bekannt.
Die historischen Quellen in denen sie Erwähnung finden sind römischen, fränkischen, gotischen oder langobardischen Ursprungs und zeigen ein Bild, das in erster Linie vom Selbstverständnis ihrer Verfasser geprägt ist. Umso mehr sind wir auf archäologische Quellen angewiesen, die uns vor allem einen Einblick in den Alltag vor 1500 Jahren bieten. Auf dem kleinen Begräbnisplatz bei Boilstädt beerdigten die Bewohner eines Dorfes ihre Angehörigen.
Die Bestattungen waren unterschiedlich gut erhalten. Grund hierfür ist in erster Linie die Tiefe in der die Toten beerdigt wurden. Vor allem die Skelettreste nur flach eingetiefter Gräber weisen einen hohen Zersetzungsgrad auf.
Elf der untersuchten Grablegen waren noch während oder kurz nach der Nutzungszeit des Friedhofes erneut geöffnet worden. In vier Fällen geschah dies um einen Verstorbenen in ein bestehendes Grab zu beerdigen. Zwar lagen die Skelette der primär Bestatteten deshalb nicht mehr im anatomischen Verband, jedoch wurden keine Grabbeigaben entnommen.
Sieben weitere Gräber wurden geöffnet um Beigaben zu entnehmen, wobei nur das Grab einer Frau, in dessen Verfüllung sich zwei Fragmente einer Almandinzelleinlage, die ursprünglich zu einer Scheibenfibel gehörten, einen vagen Hinweis darauf gibt wonach die Grabräuber suchten. Die Spuren der Graböffnung waren in diesen Fällen als trichterförmige Verfärbung bereits im Profil der Grubenverfüllung erkennbar. Die Knochen des Oberkörpers ab dem Becken aufwärts lagen ungeordnet im Westteil der Grube, wohingegen der untere Teil des Skelettes, in der Osthälfte, noch in anatomischer Lage erhalten war
Aus diesen Beobachtungen lassen sich drei Schlussfolgerungen ableiten. Zunächst müssen die Gräber zum Zeitpunkt der Öffnung noch obertägig sichtbar gewesen sein; denkbar ist auch eine Grabmarkierung. Darüber hinaus war den Grabräubern der Bestattungsritus und damit die Lage der Toten bekannt, da die Gräber ausnahmslos gezielt im Bereich des Oberkörpers geöffnet wurden. Und drittens erfolgte die Graböffnung als der Körper bereits soweit vergangen war, dass keine Weichteile mehr die Knochen im anatomischen Verband halten konnten.
Dass die Raubgräber nicht zur bestattenden Dorfbevölkerung gehörten, verdeutlicht ein kurioser Befund. Dabei handelt es sich um die Bestattung eines Pferdes. Das enthauptete Tier wurde mit dem Vorderteil in Richtung Osten, in Bauchlage mit unter den Körper angewinkelten Extremitäten in die Grabgrube gelegt. Die Öffnung des Grabes erfolgte in der Westhälfte der Grube, dort wo sich bei einer menschlichen Grablege der Oberkörper befunden hätte. Offensichtlich hielt man es auf Grund der Abmaße für eine „normale“ Bestattung, wusste also nichts über seinen tatsächlichen Inhalt.
In vier Gräbern waren zwei gleichzeitig verstorbene Personen in einer gemeinsamen Grabgrube beerdigt worden. Vor allem diese Grablegen und die Gruppe der Nachbestattungen werfen die Frage nach verwandtschaftlichen oder sozialen Beziehungen der Verstorbenen auf, die sich ein gemeinsames Grab teilten. Antworten hierauf könnten zukünftig genetische Untersuchungen am Skelettmaterial geben.
Die Toten wurden in der Regel in langrechteckigen Gruben bestattet, die bis in den anstehenden Löß gegraben worden waren. Zehn Befunde wiesen Spuren hölzerner Grabeinbauten auf. Die Holzkonstruktionen dienten in erster Linie zur Aussteifung der Grabgruben. In den Ecken und in der Mitte der Längsseiten trieb man Pfosten in das Erdreich, hinter denen Bretter verkeilt wurden. Ob diese simplen Kammern mit einem Deckel verschlossen waren und/oder einen Boden besaßen, ließ sich nicht mehr feststellen.
Den Verstorbenen gab man eine Reihe persönlicher Gegenstände mit in das Grab. Die Beigaben bilden dabei einerseits einen Ausschnitt der Sachkultur vor 1500 Jahren ab, andererseits geben sie einen Hinweis auf die Glaubenswelt der Menschen dieser Zeit.
Während einfache eiserne Messer, Dreilagenkämme und Gürtelschnallen sowohl in Männer-, als auch in Frauengräbern vorkamen, waren andere Gegenstände geschlechtsspezifisch. Frauen wurden mit ihrem Schmuck beerdigt, der aus Glasperlenketten und in einigen Fällen aus Ohrringen bestand. Darüber hinaus fanden sich in ihren Gräbern häufig Spinnwirtel. Männern gab man verschiedene Waffen mit in das Grab, wobei die Ausrüstung von einigen Pfeilspitzen bis hin zu einer Vollbewaffnung mit Schild, Speer, Lanze, Sax und Spatha variierte. Speisebeigaben, deren Reste in Form von Tierknochen und Eierschalen geborgen werden konnten, traten unabhängig vom Geschlecht der Verstorbenen in 13 Gräbern auf. Keramikgefäße, die ebenfalls der Deponierung von Lebensmitteln dienten, fanden sich in fünf Fällen.
Außer der bereits erwähnten „beraubten“ Pferdebestattung traten drei weitere Pferdegräber zu Tage, die jeweils in unmittelbarer Nähe eines mit einer Waffenausrüstung bestatteten Mannes lagen. Die Pferde wurden enthauptet in rechteckigen Gruben niedergelegt; Hinweise auf den Verbleib der Schädel fanden sich nicht. Die Tiere lagen auf der rechten Seite in gleicher Orientierung wie die menschlichen Bestatteten – der Vorderkörper im Westen, der Hinterkörper im Osten. In einer dieser Grablegen war darüber hinaus ein Hund niedergelegt worden.
Die Verbindung von Pferdebestattung und von Gräbern mit Waffen beerdigter Männer – Pferd und Reiter implizierend – lässt auf eine besondere soziale Gruppe schließen, die auf dem Gräberfeld bei Boilstädt beigesetzt wurde. Zwei dieser Grablegen hoben sich nicht nur durch Grabbau und –ritus, sondern auch durch die Qualität der Beigaben von den übrigen Gräbern ab. Nicht zuletzt aus diesem Grund prägte die Presse für einen der Bestatteten den Namen „Der Herr von Boilstädt“.
Der Tote war in einer etwa 3 m langen und 1,25 m breiten Kammer beigesetzt worden, die man mit einer Balkendecke abgedeckte. Über der Kammer, die mehr als 2 m unter das Geländeniveau eingetieft war, wurde ein Hügel von 9 bis 12 m Durchmesser aufgeschüttet. Am Fuße dieses Hügels waren in einer separaten Grube ein Pferd und ein Hund bestattet.
Auf Grund der Tatsache, dass es sich um eine sehr aufwendig gestaltete Grablege handelte, die offensichtlich nicht beraubt worden war, wurde die Entscheidung getroffen, das Grab im Block zu bergen und in der Restaurierungswerkstatt des Thüringischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie (TLDA) freizulegen.
Um das Grab vollständig zu bergen wurde in einer Arbeitsgrube mit 10 Metern Seitenlänge ein Erdblock mit den Abmaßen 3,4 mal 2,4 mal 1 Meter hergestellt. Nach der Einschalung in ein Stahlkorsett wurde der Block an der Unterseite horizontal unterbohrt. In die Bohrungen wurden Stahlrohre eingeschoben und zu einem Fehlboden verschweißt. Anschließend wurde der Block mit einem Gewicht von circa 17 Tonnen aus der Grube gehoben und in die Räumlichkeiten der Restaurierungswerkstatt überführt.
Die Freilegung der Blockbergung nahm zwei weitere Jahre in Anspruch.
Die Ergebnisse der Untersuchung lassen wie folgt zusammenfassen:
Die Grabkammer des „Herrn von Boilstädt“ war mit Rinde, Reisig oder ähnlichem ausgelegt worden. Den im Alter zwischen 30 und 40 Jahren verstorbenen, kräftig gebauten Mann, bettete man in gestreckter Rückenlage mit dem Kopf im Westen auf ein hölzernes Mobiliar. Während des Verwesungsprozesses brach das Möbelstück unter ihm zusammen, so dass er über die linke Körperseite an die nördliche Grabwand rollte und dort auf dem Bauch zu liegen kam.
Der Verstorbene wurde bekleidet beerdigt, worauf einerseits durch Korrosion an den Beigaben konservierte Textilreste und andererseits Kleidungsaccessoires, wie eine Gürtelschnalle aus Buntmetall und zwei kleine eiserne Schnallen mit Buntmetallbeschlag, die von einer Wadenbindengarnitur oder Schuhen stammen, hindeuten.
Mit Spatha, Sax, Ango, Lanze und Schild legte man ihm eine vollständige Waffenausrüstung mit in das Grab. Ein Beutel aus Leder oder Textil den er rechts am Gürtel trug, barg eine Reihe von Gegenständen, die für ihn scheinbar eine besondere Bedeutung besaßen. Das Fragment eines blauen Glasarmringes aus der Latènezeit war zum Zeitpunkt als es in das Grab gelangte bereits etwa 800 Jahre alt. Solchen Stücken, die wahrscheinlich bei der Feldarbeit oder beim Hausbau im Boden gefunden wurden, schrieb man wegen ihrer strahlend blauen Farbe eine apotropäische Wirkung zu. Abbildung 5 In einen ähnlichen Kontext sind vermutlich auch zwei Fensterglasfragmente zu stellen. Sie können nur aus einem sakralen Bau stammen wie er in dieser Zeit lediglich im Mittelmeerraum beziehungsweise im ehemaligen oströmischen Reich zu finden war.
Kulturelle Verbindungen in den Süden und den Südosten Europas spiegeln auch zwei weitere Grabbeigaben wider.
Eine goldene Münze, ein vor 580 im Westgotischen Reich auf der iberischen Halbinsel geprägter Tremisis, war dem Toten als Obulus für die Reise ins Jenseits in den Mund gelegt worden.
Am Kopfende des Grabes fand sich das wohl kurioseste Stück der Grabausstattung. Eine bronzene Öllampe mit einem in Kreuzform gearbeiteten Griff war vermutlich als Grablicht an der Kammerwand aufgehängt worden. Lampen dieser Art kommen aus dem koptischen Kulturkreis. Das Boilstädter Exemplar entstammt wahrscheinlich einer byzantinischen Werkstatt des 6./7. nachchristlichen Jahrhunderts.
Die Ausführung der im Grab gefunden Gegenstände, insbesondere aber die Münze ermöglichen es das Alter der Bestattung zu bestimmen. Sie wurde am Ende des 6 Jahrhunderts nach Christus kurz vor dem Jahr 600 auf dem Begräbnisplatz nahe Boilstädt angelegt.
Die byzantinische Öllampe ist nicht nur ihrer Provenienz wegen ein außergewöhnlicher Fund, auch ihre Symbolik unterscheidet sie grundlegend vom Rest der Grabbeigaben. Sowohl das am Griff erscheinende Kreuz, als auch das im Grab brennende Licht gehören in den Kontext einer christlichen Glaubensvorstellung. Dem gegenüber ist die Tradition der Waffenbeigabe, die Mitgabe von Speisen, deren Überreste sich ebenfalls in der Grabkammer fanden, sowie die im Mund des Toten deponierte Münze Ausdruck einer heidnischen Vorstellungswelt. Dieser aus heutiger Sicht nur schwer zu verstehende Synkretismus ist typisch für die Zeit in der sich das Christentum in Mitteleuropa verbreitete.
Der auf dem Gräberfeld bei Boilstädt bestattete Mann verstand sich als Christ. Er gehörte zu einer elitären Schicht von Kriegern, die im Europa der sich etablierenden Königreiche unterwegs war, um in Gefolgschaften zu dienen und damit politischen Verpflichtungen nachzukommen, aber auch um persönliches Ansehen und materiellen Reichtum zu gewinnen. Teil seines Selbstverständnisses war es diese Errungenschaften auch in der jenseitigen Welt zur Schau zu tragen.
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